So langsam wie ein Wimpernschlag: Stummfilm mit Livemusik

Sabrina Zimmermann (Violine) und Mark Pogolski (Klavier) verliehen dem Stummfilm

Werne. Eine überfüllte Tanzfläche, wippende Luftballons und flatternde Luftschlangen. Mittendrin eine junge Frau, die dem Trubel entkommen möchte. Die Musik fängt das chaotische Treiben ein und spiegelt gleichzeitig die innere Zerrissenheit der Hauptdarstellerin, die zwischen zwei Männern steht.

Die Sonderveranstaltung der Musikfreunde Werne und des Kinoclubs Werne bot mehr als 100 Zuschauern am Sonntag (26.11.2023) einen außergewöhnlichen Filmgenuss: einen Klassiker der Stummfilm-Ära, mit Livemusik untermalt.

Auch das Ambiente passte zur Vorstellung: Sie fand im großen Saal des Capitol-Cinema-Centers Werne statt, den die Betreiber Jutta und Wido Wagner mit roten Plüschsesseln und Deckenflutern wie aus der Art-Deco-Zeit ausgestattet haben. Links neben der Leinwand hatte sich das Aljoscha-Zimmermann-Ensemble platziert: Die Violinistin Sabrina Zimmermann und der Pianist Mark Pogolski begleiteten das Drama „Die Frau, nach der man sich sehnt“ aus dem Jahr 1929 (Regie: Kurt Bernhardt). „Stummfilme waren nie stumm“, erklärte Sabrina Zimmermann vor Beginn der Kinovorstellung. „Musik gehörte immer dazu, die Originalmusik zu diesem Film ist allerdings verloren gegangen.“ Mit ihrem Partner spielte sie stattdessen eine Komposition aus der Feder ihres Vaters. Aljoscha Zimmermann (1944–2009) war ein international gefragter Stummfilmpianist gewesen. Er hinterließ mehr als 400 Werke für diese heute wieder gefragten Lichtspiele.

Bevor sich der Vorhang hob, erhielt das Publikum eine kleine Einführung – über Pausen, die Spannung erzeugen, und über Kontrapunkte. „In solchen Momenten bildet die Musik  einen Gegenpol zum Geschehen auf der Leinwand“, erklärte Sabrina Zimmermann. Das erfolgt zu dem Zweck, die innere Gefühlswelt der stummen Darsteller bloßzulegen. So wie bei besagter Silvesterfeier, bei der die Musik nicht das fröhliche Treiben, sondern die Seelenpein von Marlene Dietrich spiegelt.

Außerdem arbeitete Aljoscha Zimmermann mit Leitmotiven, von denen seine Tochter und ihr Partner vor Beginn einige vorstellten: das Liebesthema, bei der Piano und Violine quasi zueinander drängten, einen aggressiven Tango Mortale für den Bösewicht und das melancholische Schicksalsmotiv. Doch der Film besitzt auch komischen Elemente, die von der Musik herausgekitzelt wurden. Etwa, wenn der Unternehmer Poitrier, der raucht wie die Schlote seiner Fabrik, die Dampfwölkchen aus seiner Zigarre im Staccato ausstößt.

Zimmermanns Komposition umspielt die verlegene Annäherung eines jungen Brautpaares, amüsiert sich über die frisch gebackene Ehefrau, die ihr aufreizendes Nachthemd unter der Bettdecke versteckt. Die Töne jagen über Schienen, sie klimpern so langsam wie ein lasziver Wimpernschlag der Dietrich, sie zucken im Todeskampf.

Das erfordert höchste Konzentration. Sabrina Zimmermann und Mark Pogolski haben immer einen Blick für die Noten, einen für die Leinwand und einen füreinander. Aljoscha Zimmermann hat auf die Sekunde genau komponiert. In der Stummfilmzeit war das nicht selbstverständlich, wie seine Tochter ausführte. Regisseure wie Fritz Lang arbeiteten eng mit Komponisten zusammen und bezogen diese in den Entstehungsprozess ihrer Filme ein. Die meisten Stummfilme wurden jedoch erst nachträglich mit Musik unterlegt. „Es gab Schubladen für Themen wie Liebe, Leidenschaft, Verfolgung“, erklärte Sabrina Zimmermann. Da wurde bisweilen auch ein Bruckner aus der entsprechenden Lade gezogen in der Hoffnung, dass er passte.

Ganz anders die Musik, die am Sonntag in Werne zu hören war: Sie war keinesfalls nur die Begleitung zum Film. Aufgrund ihrer symphonischen Bandbreite, ihrer Erzählstruktur und Spannungsbögen würde sie auch für sich funktionieren.

von Anke Schwarze, erschienen bei WernePlus.

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